Rollstuhlbasketball-Rookie Bergenthal startet in Tokio erstmals bei den Paralympics
Ihr Weg zur Spitze war gänzlich anders als der ihrer Mitspielerinnen: Lisa Bergenthal ist die Neue im Team der Rollstuhlbasketball-Damen für die Paralympics in Tokio – und hat für sich eine klare Aufgabe für die Spiele definiert
Lisa Bergenthal feiert in Tokio ihre Premiere bei den Paralympischen Spielen – mit 21 Jahren. Sie ist eine von fünf Debütantinnen im Team der deutschen Rollstuhlbasketballerinnnen. Gerechnet hatte Bergenthal mit der Nomininerung für die Spiele freilich nicht – zumal sie coronabedingt über ein Jahr keine Spielpraxis sammeln konnte und als Einzige noch keine WM oder EM spielte.
Den Nachnamen Bergenthal dürften Rollstuhlbasketball-Fans schon gekannt haben, bevor Lisa Bergenthal geboren wurde. Ihr Vater Lars gilt bei den RBC Köln 99ers schließlich als Legende und spielt selbst Rollstuhlbasketball, seit er 22 ist. Über die Uni fand er damals zu seinem Sport und weil Tochter Lisa die gleiche, genetisch vererbbare Gehbehinderung hat und auch vom Rollstuhlbasketball fasziniert war, wandelt sie nun auf seinen Spuren – und ist fast in dem Alter, in dem ihr Vater anfing, schon Nationalspielerin: „Er ist ein super Support und hat meinen Weg immer unterstützt. Jetzt ist er besonders stolz, weil er selbst nie Nationalspieler war, aber bis zur 1. Liga alles gespielt hat. Dass er als Legende bezeichnet wird, würde ich sofort unterschreiben.“
Die „kölsche Karriereleiter“ hochgeklettert
Und weil Lisa Bergenthal schon früh und immer mit in die Halle genommen wurde, „und alle wussten, dass ich die Tochter vom Lars bin“, ist ihr Weg in den Leistungssport ein besonderer. Mit 13 fing sie selbst an zu spielen und in den fünf Mannschaften der Köln 99ers stieg sie nahezu jede Saison ein Level höher – von der Landesliga bis in die 2. Rollstuhlbasketball-Bundesliga. TryOuts vom Verband musste sie nicht besuchen, um entdeckt zu werden, der hatte sie sowieso auf dem Schirm. „Köln ist der optimale Verein, um diesen Weg zu gehen, das sind wirklich tolle Möglichkeiten, die ich habe und hatte“, sagt die 21-Jährige über ihre „kölsche Karriereleiter“, dank der sie kommende Saison sogar mit dem RBBL-Team in der höchsten deutschen Spielklasse trainieren wird: „Ich habe mich aber entschieden, hauptsächlich in der 2. Liga zu spielen, um mehr Einsatzzeiten zu bekommen.“
Als sich im vergangenen März herauskristallisierte, dass die Saisons abgebrochen werden müssen und die 2. Liga den Spielbetrieb nicht aufnehmen konnte, dachte Bergenthal sogar kurzzeitig darüber nach, den Verein zu wechseln. Schließlich spielten ihre Teamkolleginnen in der Nationalmannschaft größtenteils in der RBBL oder in der College League in den USA, während sie weder trainieren noch spielen durfte. „Wenn ich angesprochen worden wäre, hätte ich mir vielleicht mehr Gedanken gemacht. Ich habe dann aber schnell gemerkt, dass ich nicht selbst auf Teams zugehen und irgendwo hinziehen möchte. Und Pendeln kam zeitlich mit dem Studium eh nicht infrage“, schildert Bergenthal ihre Gedankenspiele: „Ich bin zu 100 Prozent Köln, ich studiere hier, ich lebe hier und ich will hier leben. Deshalb war ein Wechsel keine Option.“
„Der Tiger und Köln sind in meinem Herzen dabei“
Dass sie aber trotz dieser Situation jetzt schon den Sprung in die A-Nationalmannschaft schaffte, „überwältigte“ sie nach eigener Aussage: „Ich hatte nicht damit gerechnet und dadurch, dass ich so lange keine Liga gespielt habe, ehrt mich das noch mehr. Die Coaches haben mir gesagt, dass ich mich sehr verbessert habe und klar, die Paralympics waren immer ein Ziel für mich – dass es jetzt schon gereicht hat, ist sehr aufregend.“
Neben Lena Knippelmeyer, Katharina Lang, Svenja Mayer und Catharina Weiß ist sie die fünfte Paralympics-Debütantin im Team von Interims-Bundestrainer Dennis Nohl. „Aber alle anderen wurden für eine EM oder WM schon nominiert und ich direkt für dieses Riesenevent. Es ist das Größte, das es gibt – das muss ich erst realisieren“, sagt Bergenthal demütig. Beim Vorbereitungsturnier im niederländischen Papendal debütierte sie im Nationaltrikot und nachdem die Klausuren in ihrem Studium der Erziehungswissenschaften an der Uni Köln noch im Fokus standen, gilt jetzt ihre ganze Konzentration den Spielen.
Nach und nach wird ihr bewusst, was sie bereits erreicht hat. „Wenn jemand gratuliert oder als meine Familie erfahren hat, dass ich dabei bin. Das sind schon besondere Momente. Dann natürlich die Einkleidung, der neue Stuhl steht bald da – das sind ganz klare Zeichen, dass es jetzt losgeht. Und als ich in Köln beim Nations Cup meinen Namen auf dem Trikot gesehen habe und die Hymne singen durfte, das war extrem emotional“, sagt Bergenthal, die bei Köln-Spielen einen großen Plüsch-Tiger als Team-Maskottchen hat. Der wird nicht mit nach Tokio dürfen, „da muss genug anderes in den Koffer. Aber der Tiger und Köln sind in meinem Herzen dabei.“
„Ich kann Medaillen gewinnen und mich sportlich verwirklichen“
Der Rollstuhlbasketballsport hat Bergenthal auch menschlich geprägt und ihr Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen gegeben. „Ich war in allen Sportarten eingeschränkt und dass es im Rollstuhlbasketball so gut geklappt hat, hat mich gepusht und extrem bereichert. Ich habe Gleichgesinnte gefunden, konnte Freundschaften aufbauen und reise als Nationalspielerin um die Welt. Das hätte ich im Fußball nicht geschafft. Hier kann ich Medaillen gewinnen und mich sportlich verwirklichen.“
Mit der U25-Nationalmannschaft gewann Bergenthal bei der Europameisterschaft 2018 schon Silber und 2019 bei der WM wurde sie Fünfte. „Lisa hat seit ihrer guten Juniorinnen-WM diszipliniert trainiert und sich durch gute Leistungen in den beiden Selection Camps für den Paralympics-Kader empfohlen. Sie wird viel von den erfahrenen Spielerinnen lernen können und ist eine vielversprechende Spielerin für die Zukunft“, sagt Nohl, der Bergenthal damals auch bei der U25 trainierte.
Bergenthals persönlich größter Erfolg war bis dato, dass sie bei der deutschen Damen-Meisterschaft 2019 Silber gewann und als Nachwuchs-MVP ausgezeichnet wurde. Dadurch kennt sie auch die meisten ihrer künftigen Mitspielerinnen in der Nationalmannschaft. „Die Rollstuhlbasketball-Bubble ist ja nicht so groß. Aber jetzt lerne ich alle noch mal anders kennen und es ist eine Ehre, mit ihnen zusammenzuspielen.“
„Am liebsten noch in 50 Jahren Spaß am Rollstuhlbasketball haben“
Besonders happy ist sie auch darüber, dass Catharina Weiß in Tokio mit an ihrer Seite spielen wird – eine ihrer besten Freundinnen. Die beiden Nachwuchstalente haben sogar einen gemeinsamen Instagram-Account, „aber als die ersten Anfragen kamen, haben wir uns entschieden, dass das nicht für die Öffentlichkeit ist. Wir wollen bloß nicht zum Influencerinnen-Duo werden. Der Account ist eher dafür da, damit wir unseren Mamas nicht immer die gleichen Fotos schicken müssen und unsere Familie auf unseren Reisen mitnehmen können.“
Die dürfen schon jetzt gespannt sein, was Weiß und Bergenthal aus Tokio berichten. Am 14. August fliegt das Team ins Pre-Camp nach Kitakyushu und siedelt kurz vor Beginn der Paralympics nach Tokio um, am 26. August ist dann das erste Spiel gegen Australien. Sportlich möchte das deutsche Team nach Silber in Peking 2008, Gold in London 2012 und Silber in Rio 2016 auch bei den vierten Paralympics in Folge eine Medaille gewinnen. Dass die jüngsten Testspiel-Ergebnisse gegen Weltmeister Niederlande und Spanien nicht so prickelnd waren, würde Bergenthal nicht zu hoch einstufen: „Wir sind absolut nicht zufrieden mit den Ergebnissen beim Nations Cup. Doch wir haben viel Potenzial, wenn wir uns als Team weiter finden. Ich bin überzeugt, dass wir in Tokio auf jeden Fall gute Leistungen bringen werden. Ob es am Ende für eine Medaille reicht, werden wir sehen.“
Sie selbst wurde bislang wenig eingesetzt, auch weil sie mit ihren 3,5-Klassifizierungspunkten nur schwer in bestehende Line-Ups integriert werden kann. Wenngleich sie eines Tages den Wunsch hat, als Schlüsselspielerin zu agieren, ist sie nun mit ihrer Rolle als Motivatorin happy: „Meine Zeit wird kommen. Ich bin als Rookie auf dem Feld noch nicht so relevant und möchte in erster Linie Erfahrungen sammeln. Darüber hinaus will ich den anderen Spielerinnen von der Bank aus Selbstbewusstseins-Pushs geben und positive Vibes verbreiten“, sagt Bergenthal und hat auch hier ihren Vater als Vorbild: „Er spielt mit 50 immer noch Rollstuhlbasketball und hat mich nie unter Druck gesetzt. Man darf den Spaß am Sport nie verlieren – das ist ein riesiges Ziel von mir. Auch wenn es jetzt um Leistung geht: Ich möchte am liebsten noch in 50 Jahren Spaß am Rollstuhlbasketball haben und dieses Gefühl will ich in die Mannschaft reintragen.“
Text: Nico Feißt
Foto: Gero Müller-Laschet / Köln 99ers