Grundrechte verbieten Hilfsmittelbeschränkung auf Minimalversorgung
Das Sozialgericht Konstanz hat im Oktober 2021 durch Gerichtsbescheid einem Rollstuhlfahrer Recht gegeben und dessen Krankenkasse verurteilt, ihn mit einem Handbike mit Motorunterstützung zu versorgen. Zudem musste die Krankenkasse die außergerichtlichen Kosten des Rollstuhlfahrers erstatten.
Um was drehte sich der Rechtsstreit?
Der Rollstuhlfahrer war nach einem Verkehrsunfall querschnittgelähmt und beantragte bei seiner Krankenkasse die Kostenübernahme für ein elektrisches Handbike, welches ihm von seinem Arzt verordnet worden war. Die Krankenkasse lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass der Rollstuhlfahrer mit dem Aktivrollstuhl für den Nahbereich ausreichend versorgt sei. Hiergegen legte er Widerspruch ein und argumentierte, dass er den Rollstuhl im Haus zwar noch gut antreiben könne, da hier nur wenige Meter zurückzulegen seien. Außer Haus sei es ihm aber nicht möglich, sich eigenständig weiter als ein paar Meter fortzubewegen, da ihm die ständige Greifbewegung sehr schwerfalle. Das elektrische Handbike biete ihm die Möglichkeit, sich innerhalb des Nahbereichs fortzubewegen.
Ein MDK-Gutachten stellte heraus, dass mit dem elektrischen Handbike die Geschwindigkeit und die Strecken, die damit zurückgelegt würden, weit über die eines Fußgängers im Sinne eines Basisausgleichs hinausgingen. Es empfahl daher zum Behinderungsausgleich allein einen Restkraftverstärker. Der Rollstuhlfahrer trug hierauf vor, dass auch bei einem restkraftunterstützenden Greifreifenantrieb der Greifreifen immer wieder neu zu greifen sei. Das sei ihm so nicht möglich. Sein Physiotherapeut führte in der Stellungnahme aus, dass die Aktivitäten mit dem Handbike durchweg zu einer Verbesserung der Partizipation geführt hätten. Das beantragte E-Handbike biete eine verlängerte Nutzungsmöglichkeit dieser Effekte.
Es kommt zur Klage
Die Krankenkasse wies den Widerspruch zurück und argumentierte, dass das beantragte Handbike aufgrund seiner motorunterstützten Leistungsfähigkeit mit einer maximalen Geschwindigkeit von 25 km/h unabhängig von der medizinischen Indikation und den Umständen des Einzelfalls das Maß des Notwendigen überschreiten würde. Hiergegen erhob der Rollstuhlfahrer Klage beim Sozialgericht Konstanz. Das Gericht hat im Zuge der Beweisaufnahme den Hausarzt und den Neurologen schriftlich als sachverständige Zeugen gehört. Der Hausarzt führte aus, dass er die Eigeninitiative und aktive Bewegung von Patienten unterstütze. Ein Rollstuhlzuggerät sei daher ein richtiger Schritt. Der Neurologe betonte, dass ein Zuggerät einen deutlich größeren Bewegungsrahmen sowie eine kraftsparende Fortbewegung in der Ebene ermögliche und der Rollstuhlfahrer damit zudem auch leichte Steigungen überwinden könne. Damit sei ein besserer Nachteilsausgleich möglich, ansonsten würde er die Einweisung in die Schmerzklinik empfehlen. Die Krankenkasse blieb dennoch bei ihrer ablehnenden Haltung.
Der Anspruch ist rechtens
Das Sozialgericht entschied, dass der Rollstuhlfahrer Anspruch auf Versorgung mit dem verordneten Handbike mit Motorunterstützung hat (Gerichtsbescheid der 7. Kammer des Sozialgerichts Konstanz vom 10.11.2021 (AZ: S 7 KR 326/20)).
Es verwies auf § 33 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuches V, wonach Krankenversicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln haben, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen (oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen) sind. Nicht entscheidend sei, ob das begehrte Hilfsmittel im Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt ist, denn hierbei handelt es sich nicht um eine abschließende Regelung im Sinne einer Positivliste.
Den Anspruch des Rollstuhlfahrers auf Versorgung mit einem Handbike mit Motorunterstützung sah das Sozialgericht als gegeben an und wies darauf hin, dass ein solcher Anspruch grundsätzlich zum einen unter dem Gesichtspunkt des Ausgleichs der Behinderung und zum anderen zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung in Betracht kommt.
Behinderungsausgleich
Jeder Versicherte hat im Rahmen des mittelbaren Behinderungsausgleichs Anspruch darauf, dass die direkten oder indirekten Folgen einer Behinderung im täglichen Leben beseitigt oder zumindest gemildert werden, soweit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist. Zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens ist die Fähigkeit zum Tätigen der Geschäfte des täglichen Bedarfs zu rechnen, wobei der Freiraum im Sinne der Bewegungsmöglichkeit bzw. Mobilität regelmäßig nur den Nahbereich umfasst. Hierbei geht es um kurze Spaziergänge oder die Erledigung von Geschäften des Alltags.
Insoweit stellte das Sozialgericht im vorliegenden Fall fest, dass der vorhandene Aktivrollstuhl die Versorgung des Rollstuhlfahrers im Nahbereich in dem beschriebenen Sinn nicht mehr abdeckt, da er dieses Hilfsmittel aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht mehr in ausreichendem Umfang nutzen kann. Dies war auch das Ergebnis des Gerichtsgutachtens. Demnach bereitet dem Rollstuhlfahrer das Antreiben des Rollstuhls zunehmend Schmerzen. Dies liegt an einem Bandscheibenvorfall mit ausstrahlenden Schmerzen in beide Schultern und gelegentlich auch in den linken Arm und zusätzlich an einem Karpaltunnelsyndrom, was bei Rollstuhlfahrern häufig durch das kontinuierliche Antreiben des Rollstuhls vorkommt.
Das Sozialgericht ging deshalb davon aus, dass der Rollstuhlfahrer für die Versorgung im Nahbereich anders als bisher ausgestattet werden muss. Die Nutzung eines Aktivrollstuhls mit einem E-Motion-Restkraftverstärker sei keine Alternative, sondern würde eher zur weiteren Einsteifung und Intensivierung der Schmerzsymptomatik beitragen. Demgegenüber kommt es bei Nutzung des Handbikes durch aufrechte Haltung und Aktivierung der Schultermuskulatur zu einer Stärkung der Rumpf-, Bauch-, Brust- und Schultergürtelmuskulatur. Bestätigt wird dies dadurch, dass beim Rollstuhlfahrer das privat angeschaffte Handbike kaputtging und es dadurch zu einem Abbau der Kraft der Rumpfmuskulatur kam, weshalb der Rollstuhlfahrer nicht mehr in der Lage war, frei zu sitzen.
Das Gericht hielt fest, dass die positiven Effekte bei Nutzung des Handbikes nicht in vergleichbarer Form durch einen Rollstuhl mit Elektroantrieb erreicht werden können. Angesichts dieser Sachlage hat das Sozialgericht betont, dass der Anspruch des Rollstuhlfahrers nicht wegen der in Betracht kommenden wirtschaftlicheren Versorgung mit einem E-Motion-Restkraftverstärker ausgeschlossen ist.
Minimalversorgung als Basisausgleich?
Auch der Umstand, dass mit dem begehrten Handbike eine höhere Geschwindigkeit als die Gehgeschwindigkeit erreicht werden kann, schließt die Versorgung aus sozialgerichtlicher Sicht nicht aus. Unter Berücksichtigung einer grundrechtsorientierten Auslegung des § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V ist der Anspruch auf ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich nämlich nicht von vornherein auf einen Basisausgleich im Sinne einer Minimalversorgung beschränkt. Es kommt im notwendigen Umfang in Betracht, wenn das begehrte Hilfsmittel wesentlich dazu beiträgt oder zumindest maßgebliche Erleichterung verschafft, Versicherten auch nur den Nahbereich im Umfeld der Wohnung in zumutbarer und angemessener Weise zu erschließen.
Zu berücksichtigen war daher im konkreten Fall der Umstand, dass eine alternative Hilfsmittelversorgung zur zumutbaren und angemessenen Erschließung des Nahbereichs der Wohnung unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts des Rollstuhlfahrers aktuell nicht in Betracht kam.
Jochen Link
HINWEIS: Der Beitrag wurde erstmalig im „PARAplegiker 2/2022“ veröffentlicht, Herausgeber ist die Fördergemeinschaft der Querschnittgelähmten in Deutschland (FGQ) e.V..
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