„Möglichkeit, gesellschaftliche Teilhabe wiederzuerlangen„
Seit mehr als 30 Jahren dreht sich im Leben des 60-Jährigen vieles, wenn nicht sogar alles, um Pfeil und Bogen. Ob als Leistungs- und Breitensportler, Trainer oder Funktionär – Oehme hat sämtliche Facetten, die das Bogenschießen Menschen mit und ohne Behinderung bietet, kennen- und lieben gelernt. „Was viele nicht wissen”, erklärt Oehme: „Sehr lange schon wird Bogenschießen auch als Rehasport genutzt.“
Über die positiven und gesundheitsfördernden Aspekte kann der Ronneburger aus eigener Erfahrung berichten. Oehme kam Anfang der 90er Jahre erstmals intensiver mit dem Rehasport in Kontakt. „Ich habe viele Jahre als Bergmann gearbeitet. 1989 bin ich unter Tage abgestürzt”, erinnert er sich. Das Rückenmark wurde dabei schwer geschädigt, Oehme sitzt seitdem im Rollstuhl. Der Rehasport habe ihm geholfen, wieder fitter zu werden und sei für ihn auf dem Weg der Genesung ein wichtiger Baustein gewesen. „Mein Arzt hat mir 1992 im Rahmen eines Klinikaufenthaltes das Bogenschießen empfohlen“, erinnert sich gebürtige Weimarer.
Die erste Ausrüstung gab es sogar auf Rezept. In der Rückschau war dies eine glückliche Fügung. Für Mario Oehme war das der Beginn einer erfolgreichen Karriere. Binnen eines Jahres nach seiner Reha schaffte er es ins Team der deutschen Nationalmannschaft, 1994 schoss er erstmals bei einer Europameisterschaft. Mit der Teilnahme an den Paralympics 1996 in Atlanta ging sein großer Traum in Erfüllung, Oehme krönte seine Laufbahn mit einer Goldmedaille im Teamwettbewerb. Acht Jahre später, in Athen, folgte sogar Einzel-Gold.
Dabei war der 60-Jährige nie ausschließlich im Behindertensport aktiv. „Ich habe auch immer bei den Nichtbehinderten mitgeschossen.“ Es gebe viele Sportler*innen, die sich auf Wettkämpfen übergreifend miteinander messen. „Bogensport ist ein wunderbar inklusiver Sport, der alles bietet, was man sich – nicht nur als Rollstuhlfahrer – wünschen kann. Menschen jeden Alters können ihn ausüben – egal ob mit oder ohne Behinderung. Eingebettet in den Rehasport ist er für Menschen nach Unfällen oder mit Erkrankungen überdies eine gute Möglichkeit, gesellschaftliche Teilhabe wiederzuerlangen”, sagt Oehme.
Das Konzept des therapeutischen Bogenschießens zielt darauf ab, Achtsamkeit, Konzentration und Körperspannung zu fördern. Es kann besonders für orthopädische Patienten und solche mit starken Verspannungen und Stresssymptomen hilfreich sein. Durch das Training des Oberkörpers werden wichtige Aspekte wie Mobilisation und Stabilisation gefördert, insbesondere für Rollstuhlfahrer ist diese Disziplin aus gesundheitlicher Sicht enorm vorteilhaft. „Wenn man so will, ist es eine Art erweiterte Rückenschule und gut für jeden, der sitzende Tätigkeiten ausübt. Man stärkt die Muskeln, der Rücken wird gerade – gleichzeitig werden Koordination und Konzentration geschult.“
Nicht zuletzt biete der Sport Raum zur individuellen Entfaltung. „Bogenschießen ist ein Individualsport, der eben auch wunderbar allein ausgeübt werden kann. Gerade im Behinderten- oder Rehasport spielen Unsicherheit und Scham eine große Rolle.“, betont Oehme, der in seinem Verein allen Menschen eine sportliche Heimat bieten und sie entsprechend ihrer Bedürfnisse und Ansprüche abholen möchte.
Schon während seiner aktiven Karriere begann der Bogensport-Experte sich als Trainer aus- und fortzubilden. Die eigene Erfahrung und das Wissen um die positiven Effekte von körperlicher Bewegung gibt er inzwischen an andere Menschen weiter. Unter dem großen Dach der Bogensportgemeinschaft Thüringen führt er als Vorsitzender und Trainer Vereine aus Gera, Meuselwitz, Altenburg, Schkölen und Gotha. Derzeit vereint die Bogensportgemeinschaft rund 120 Mitglieder, darunter sind Breiten- und ambitioniertere Sportler*innen wie auch Rehasportler*innen. Menschen mit und ohne Behinderung trainieren Seite an Seite. Dreimal wöchentlich pendelt Mario Oehme dafür zwischen den Ortschaften, unterweist Kinder und Jugendliche in inklusiven Schulen und Sportler*innen in unterschiedlichen Vereinen. Die Gruppengröße beträgt maximal acht Teilnehmende. „Mehr sollten es nicht sein. Ich möchte jedem bestmöglich gerecht werden – sei es während einer Trainingseinheit, aber auch danach. Manchmal braucht es auch nur mal ein offenes Ohr.”
Die Teilnehmenden kommen aus völlig unterschiedlichen Motivationen heraus. Es gibt Menschen, denen es weniger um sportlichen Ehrgeiz als um das regelmäßige Miteinander geht. „Daneben kommen einige, die sich nur fit halten und ihre Körperhaltung verbessern wollen. Ein großer Teil möchte sich aber gerne mit anderen messen”, sagt Oehme. Dieser Wunsch aber sei nicht immer einfach zu bedienen. Es fehle an Angeboten und Trainern. „Streng genommen braucht es für jede Art der Behinderung eine spezielle Lizenz. Das schreckt viele ab. Ganz abgesehen davon braucht es Zeit, diese Lizenzen zu erwerben.“
Zum Training gehören das Schießen und die Vermittlung theoretischer Inhalte. Oehme ist wichtig, dass seine Sportlerinnen und Sportler auch etwas über die Funktionsweise und den richtigen Umgang mit dem Bogen lernen. „Das zu vermitteln und Menschen für diesen Sport zu begeistern, macht mir großen Spaß und erfüllt mich mit Freude.“ Dabei kommt das eigene Training deutlich zu kurz. „Ich bin zwar noch aktiv, aber es ist manchmal schwierig, selbst noch was für sich zu tun. Die Sportler geben einem keine Zeit zu trainieren“, entgegnet Oehme schmunzelnd, der sich über die Resonanz freut.
Sein Wunsch für die Zukunft: die Angebote auszubauen und noch mehr Menschen das Bogenschießen näherzubringen. „Ich bin total glücklich mit meiner Arbeit – und wenn ich sehe, wie viel Spaß die Teilnehmenden am Sport haben und wie gut er ihnen tut. Dafür kann man sich nicht genug einsetzen.“
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Text: Stefanie Bücheler-Sandmeier / DBS
Foto: Privat