Für Behindertensportler/innen erfüllt Sport auch einen gesundheitlichen Zweck

von Jannik Schneider, 08.04.2020

 

Die Corona-Krise inklusive der Ausgangsbeschränkungen betrifft die gesamte Gesellschaft und damit auch ganzheitlich den Tischtennissport. Fast alle müssen auf ihr geliebtes Hobby verzichten. Für die zahlreichen Behindertensportler in Tischtennis-Deutschland hat das noch weitere Konsequenzen. Der Freie Journalist Jannik Schneider hat sich für den Deutschen Tischtennis-Bund in der Handicap-Tischtennis-Szene umgehört *:

Henrik Meyer ist in diesen Tagen einer der wenigen Glückspilze in der Tischtennisgemeinschaft. Der 22-jährige Behindertensportler ist kürzlich in ein Studentenwohnheim nach Hamburg gezogen. Dort steht im Keller tatsächlich ein recht guter Tischtennistisch. Und da Meyer neben seiner Ausbildung vor Studienbeginn in einem Tischtennisshop arbeitet, stattete er den Tisch in den vergangenen Tagen kurzerhand mit einem besseren Netz aus und installierte sogar einen Tischtennisroboter. „So kann ich jeden Tag abends trainieren“, sagt er.

In einer Zeit der Ausgangsbeschränkungen in Folge der Covid-19-Pandemie ist Meyer tatsächlich in einer privilegierten Situation. Die Gesundheitsämter haben schließlich alle Sporthallen geschlossen. An reguläres Tischtennistraining ist nicht zu denken. Das Vereinsleben steht still. Viele DTTB-Profis haben sich zu Hause eine Art eigenes Trainingszentrum erstellt: Benedikt Duda gab kürzlich im Interview mit myTischtennis sogar an, er könne sich vorstellen, den Tisch im Wintergarten seiner Eltern zu nutzen. Einige Amateure haben zu Hause ebenfalls einen Tisch stehen oder bauen sich tischtennisähnliche Modelle. Menschen mit Handicap sind da nicht weniger kreativ. Oftmals fehlt es aber an körperlichen Voraussetzungen oder der Barrierefreiheit, um zu Hause dem geliebten Sport nachgehen zu können. Das hat mitunter körperliche Folgen.

Landeskadertraining: Fehlanzeige zur Corona-Zeit

Henrik Meyer kann das noch gut kompensieren. Seine Füße sind zwar von Geburt an deformiert, bekannt ist die Behinderung unter dem Namen Klumpfuß. Zusätzlich sind beim Norddeutschen beide Beine verkürzt. „Ein Bein ist nochmal zweieinhalb Zentimeter kürzer als das andere“, erklärt er. Die Gehbehinderung hindert ihn aber nicht an Treppengängen. Meyer, der im Herbst anfangen will zu studieren und gerade noch eine Ausbildung zum Außenhandelskaufmann abschließt, weiß, dass er so in doppelter Hinsicht Glück hat.

Im Landeskader des Rehabilitations- und Behindertensportverbands Schleswig-Holstein ist er so ziemlich der einzige Sportler, der seinem Hobby momentan intensiv nachgehen kann. Sein Trainer Jörg Nickel (55), der seit diesem Jahr auch Fachwart ist, versammelt normalerweise einmal im Monat rund ein Dutzend Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen für einen intensiven Wochenendlehrgang in Alveslohe, eine halbe Autobahnstunde von Hamburg entfernt.

Eiserner Wille und eine unheimliche Disziplin

Alle seine Spielerinnen und Spieler nehmen aktiv im normalen Ligabetrieb teil und trainieren unter der Woche in den Vereinen mit. „Wir haben vom ambitionierten Landesligaspieler bis hin zu Akteuren in den Kreisligen- und Klassen alle Leistungsstärken vertreten“, sagt Nickel, der seit 36 Jahren als Tischtennistrainer aktiv ist und selbst noch in der Landesliga spielt.

Vor drei Jahren fragte ihn eine gute Bekannte, ob er sie als Trainer bei den Deutschen Meisterschaften im Behindertensport unterstützen könne. Aus Neugier fuhr er mit. „Ich hatte aber ein ganz falsches Bild von Behindertensportlern im Kopf“, sagt Nickel. „Fast alle gehandicapten Tischtennisspieler haben einen eisernen Willen und eine unheimliche Disziplin. Das hat mich sehr beeindruckt und ist im Training des Regelsports oft leider anders“, erklärt Nickel.

Spieler mit Handicap im Behinderten- und im Regelsport

Solche Aussagen hört Frédéric Peschke regelmäßig. Der 28-Jährige ist Inklusionsmanager beim DTTB und fungiert als Bindeglied zwischen dem Regel- und dem Parasport. Er ist täglicher Ansprechpartner, sorgt dafür, dass Veranstaltungen des Verbandes inklusiv und barrierefrei stattfinden. Zudem richtet Peschke, der nach einem Unfall vor zehn Jahren seinen linken Arm nicht mehr bewegen kann, selbst regelmäßig Workshops aus, um zu sensibilisieren.

„Tischtennis ist eine sehr inklusive Sportart, die Menschen mit den unterschiedlichsten Handicaps auf hohem Niveau ausüben können. In fast allen Fällen können die Behindertensportler im Regelsport mitspielen“, sagt der Tischtennisspieler mit Erfahrungen im Behinderten- und Regelsport. Viele Menschen wie Nickel seien anfangs überrascht. „Das ist eine normale Reaktion.“

In der Corona-Zeit fehlt Tischtennis als gesundheitsfördernder Faktor

Peschke gibt zu bedenken, dass die jetzige Ausnahmesituation für einige gehandicapte Tischtennisspieler noch schwieriger ist. „Tischtennis ist dann nicht nur Hobby, sondern erfüllt im Breitensport noch mehr als im Spitzensport auch einen gesundheitlichen Part.“ Koordinative Aspekte würden geschult und der Sport helfe gegen die Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands. „Für viele ist es schwer, jetzt daheim umzuschulen“, erklärt Peschke.

Seine Spielerinnen und Spieler versucht Jörg Nickel in Schleswig-Holstein nun mit individuellen Fitnessübungen bei Laune zu halten. „Wir wollen jetzt mit Video-Aufgaben starten“, sagt er und hofft insgeheim, dass er seine Schützlinge um Henrik Meyer vielleicht schon im Mai wieder trainieren kann.

„Wenn ich kein Tischtennis spielen kann, dann merke ich das schon körperlich“

Ein paar mehr körperliche Probleme hat durch die jetzige Situation Tim Bunte. Der 26-Jährige, der in der IT eines Kommunikationsunternehmens arbeitet, sitzt seit 15 Jahren im Rollstuhl. Damals sollte bei einer Operation ein Tumor entfernt werden. Seitdem lebt er mit einer inkompletten Querschnittslähmung. Wie viele Rollstuhlfahrer spielt er regelmäßig und ambitioniert Tischtennis. Im Behindertensport ist er in der 2. Bundesliga bei der BSG Duisburg-Buchholz aktiv und trainiert auch in normalen Vereinen in seiner Heimatstadt Mönchengladbach mit.

„Ich kann gerade kein Tischtennis spielen. Wenn ich gar kein Tischtennis spielen kann, dann merke ich das schon körperlich. Ich habe dann mehr Spastik“, sagt Bunte. Er sitze tagsüber im Homeoffice lange am PC. Tischtennis helfe bei der Entlastung. „Zum Glück hat nach einer Woche zumindest die Physiotherapiepraxis wieder geöffnet. Dort tragen Therapeuten und wir Patienten eine Maske als Schutz“, sagt Bunte. Zusammen mit regelmäßigem Krafttraining, dass er mit Hanteln und Therabändern aus dem Rollstuhl heraus absolvieren kann, versucht er, seinen Körper in einem normalen Zustand zu halten.

Sportmediziner Kass: „Es sei wichtig, fit zu bleiben, egal auf welchem Niveau“

Das sei genau die richtige Herangehensweise, meint der Sportmediziner und ehemalige Volleyball-Nationalspieler Dr. Antonius Kass. Der Orthopäde betreut sowohl die Nationalmannschaft um Timo Boll als auch die Para-Nationalmannschaft im Tischtennis.

„Für mich gibt es auf den ersten Blick tischtennisspezifisch zurzeit keine Unterschiede zwischen gehandicapten und nicht gehandicapten Sportlern. Alle haben die gleichen – schlechten – Voraussetzungen“, erklärt Kass. Es sei wichtig, fit zu bleiben, egal auf welchem Niveau und unter welchen körperlichen Voraussetzungen. „Ausdauer, Krafttraining und auch sportartspezifisches Training, wie zum Beispiel Schnellkraft, sind für alle nach eigenem Können daheim möglich.“ Anregungen für ein rollstuhlgerechtes Fitnesstraining gibt es unter anderem auf der Homepage des Deutschen Rollstuhl-Sportverbandes unter rollstuhlsport.de.

Tim Bunte hofft derweil, dass es bald wieder mit Training weitergeht. Denn auch der 26-Jährige wollte an den Deutschen Meisterschaften teilnehmen und hatte auch internationale Weltcup-Einsätze geplant.

Langeweile an den ausfallenden Trainingstagen

An Turnieren nimmt Matthias Kleinert in der Regel nicht teil. Aber der 43-Jährige spielt beim SC Weende in Göttingen nicht weniger leidenschaftlich Tischtennis und gibt auch Jugendtraining. Er lebt mit einer Form von Muskelschwund. Seit dem 14. Lebensjahr sitzt er ebenfalls im Rollstuhl. Ohne Tischtennis langweile er sich dienstags und freitags sehr. „Ich merke es in dieser Zeit manchmal schon körperlich, dass der Sport fehlt. Ab und zu habe ich deswegen Muskelkrämpfe“, erklärt Kleinert. Dank einer Sonderregelung der Krankenkasse kann er wieder zweimal wöchentlich zur Physiotherapie gehen. Das helfe ihm sehr.

Henrik Meyer selbst weiß um das Privileg, dass es ihm weiter gleichbleibend gutgeht und er sogar trainieren darf. Dennoch vermisst der Neuhamburger geregeltes Training und Turniere. Den Behindertensport hatte er erst 2019 für sich entdeckt durch die Handicap Open in Hannover, ein Sichtungsturnier des Deutschen Behindertensportverbands extra für Tischtennisspieler mit Behinderung. „Ich wusste einfach nicht, dass ich mit meiner Behinderung da auch mitspielen darf.“, sagt er rückblickend.

Hoffnung auf die Rückkehr zum Trainingsalltag

Wäre die Corona-Krise nicht gewesen, hätte er im April sogar erstmals an Deutschen Meisterschaften teilgenommen – Seite an Seite mit Nationalspielern, die dieses Jahr bei den Paralympics in Tokio gestartet wären. Doch auch diese Großveranstaltung für behinderte Spitzensportler ist auf 2021 verschoben wurden. Meyer sagt, er sei sehr traurig über die verpasste Gelegenheit an der Meisterschaft teilzunehmen. Der ambitionierte Amateursportler kann nur erahnen, welchen Tiefschlag die Behinderten-Nationalspieler verkraften mussten.

Immerhin: Meyer, seine Familie und Freunde sind gesund, und er muss gerade keine medizinischen Termine wahrnehmen. Was alle Tischtennisspieler neben dem Wunsch nach Gesundheit vereint: Die Hoffnung, dass ein Trainingsalltag möglichst bald wieder möglich ist.

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*Der Beitrag wurde dem DRS mit freundlicher Genehmigung des DTTB und des Autors zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt

Über den Autor: Jannik Schneider (29) ist freier Journalist und war früher selbst im Behindertensport als Spieler aktiv
Foto: Tim Bunte (privat)