Generationswechsel im Rennrollstuhlsport
An einem etwas ruhigeren Tag für die deutsche Para Leichtathletik bei den Paralympics im Olympiastadion in Tokio hat sich bildlich ein Generationswechsel im Rennrollstuhl vollzogen: Während die 17 Jahre junge Merle Menje ihr viertes Finale Tokio absolvierte, kam ein sichtlich enttäuschter Alhassane Baldé zum dritten Mal bei diesen Spielen nicht über den Vorlauf hinaus und beendete danach seine große Karriere mit 35 Jahren.
„Mit den 800 Metern war das jetzt mein letztes Rennrollstuhl-Rennen. Ich habe mir das alles ganz anders vorgestellt. Das ist definitiv eine Enttäuschung für mich“, sagte der Vorzeige-Athlet von den SSF Bonn, der in Tokio über 5000 Meter schon aussteigen musste und über 1500 Meter im Vorlauf ausschied: „Mir fehlte letztendlich der Speed, die Leichtigkeit und vielleicht auch die Leichtigkiet im Kopf, um diesen Speed zu generieren, um da mitzufahren. Das ist schwer zu akzeptieren, aber letztendlich ist es Leistungssport. Das sind Weltklasse-Athleten, gegen die ich gefahren bin.“
Baldé hatte schon früh zum Rennrollstuhlfahren gefunden und blickt auf eine 25-jährige Karriere zurück, in denen er neben zahlreichen Welt- und Europameisterschaften 2004 in Athen, 2008 in Peking, 2016 in Rio und 2020 in Tokio Paralympics erleben durfte. „Ich bin daher auch froh und happy, dass ich es noch hierhin geschafft habe. Ich hatte auch viele Höhen in meiner Karriere, das ist jetzt ein Tiefpunkt. Aber ich bin froh, den Rennrollstuhlsport in Deutschland und auch in der Welt mitgeprägt zu haben – mit schnellen Zeiten, schnellen Rennen und vielen tollen Momenten“, sagte Baldé, der drei Vize-EM-Titel, drei EM-Bronzemedaillen und zwei dritte Plätze bei Weltmeisterschaften in einer der Klassen feiern durfte, in der das Niveau und die Konkurrenz mit am höchsten einzustufen ist. Mit 18 Jahren in Athen 2004 dabei gewesen zu sein, prägte ihn sehr: „Im Kreise der damaligen Rennrollstuhlfahrer – damals gab es noch eine 4×100-Meter-Rennrollstuhl-Staffel – das alles mitzuerleben, war ein Riesen-Erlebnis. Danach wurden es immer weniger Rennrollstuhlfahrer“, erklärt Baldé, der auch zahlreiche deutsche Rekorde besitzt: „Höhepunkt war die WM 2017 in London, bei der ich überraschend zwei Mal Bronze gewinnen konnte, wo ich so eine Leichtigkeit gespürt habe und so eine Egal-Mentalität hatte, die mich da hingetragen hat. Das hat dann auch dazu geführt, dass ich 2018 in Berlin bei der EM eine Silbermedaille gewonnen habe.“
Jetzt möchte Baldé, der in Bonn von Alois Gmeiner trainiert wurde, sich auf seinen Arbeitgeber konzentrieren und ein Traineeprogramm bei der Bundesagentur für Arbeit absolvieren, um im Berufsleben voranzukommen. Und natürlich wird er auch den Sport weiter im Auge behalten: „Ich werde sicherlich nicht ganz aufhören, ich werde dem Sport erhalten bleiben. Wir haben in Bonn eine tolle Trainingsgruppe und mit Jannis Honnef einen super Nachwuchsfahrer, der in meine Fußstapfen treten kann. Ich kann mir gut vorstellen, das Ganze ein stückweit mitzubegleiten. Aber man wird auch mich sicher in eine anderen Sportart oder in einer anderen Form wiedersehen, das steht fest.“
Nicht nur in Bonn, auch im deutschen Rennrollstuhlsport freut sich Baldé, dass sein Erbe weitergetragen wird, „wie bei einer Merle zum Beispiel, mit was für einer Freude und Leichtigkeit sie diese Rennen hier bestreitet.“
Menje hatte nach Platz sechs über 5000 Meter und zwei vierten Plätzen über 1500 und 800 Meter Platz acht im 400-Meter-Finale belegt. Schon im Vorlauf hatte sie in 55,24 Sekunden im Regen eine neue Bestzeit aufgestellt und sich für das Finale vor allem trockene Bedingungen gewünscht, „weil dann der Start schon einfacher ist.“ Doch ihr Wunsch wurde nicht erhört, auch im Finale regnete es, zudem musste die Athletin vom Stadt-Turnverein Singen, die auf dem Flug nach Tokio ihren 17. Geburtstag gefeiert hatte, auf Bahn eins ran. Daher war sie mit ihrer Finalleistung von 56,69 Sekunden auch zufrieden: „Ich bin ins Finale gekommen, das war das primäre Ziel. Es waren schwierige Bedingungen und ich glaube, ich habe das Beste aus der Situation gemacht. Da hat ein bisschen der Druck dahinter gefehlt.“ Am Freitag darf Menje zum Abschluss noch in der neuen 4×100-Meter-Mixed-Staffel fahren und freut sich: „Es war natürlich eine Überraschung, ich bin noch nie Staffel gefahren und gespannt, wie es läuft.“
Das deutsche Para Leichtathletik-Team hat bislang zwei Gold-, drei Silber- und fünf Bronzemedaillen gewonnen. Am Freitag ist am Vormittag japanischer Zeit der Staffel-Vorlauf, am Abend startet Irmgard Bensusan über 100 Meter, Ali Lacin über 200 Meter und Johannes Floors über 400 Meter im Finale. Lise Petersen gibt im Speerwurf ihr Paralympics-Debüt und Lindy Ave und Nele Moos bestreiten über 400 Meter ihren Vorlauf.
>>> zur offiziellen Webseite der Spiele: Paralympic.org/Tokyo-2020
>>> zu den deutschen Athleten*innen: TeamDeutschland-Paralympics.de
>>> der DBS hat alle wichtigen Infos rund um die Spiele zusammengetragen: DBS-NPC.de/20-plus-1-fakten-zu-den-paralympics
Textquelle: Nico Feißt / veröffentlicht auf DBS-NPC.de
Foto: © Binh Truong / DBS